NEUN

Da wir die Nacht zusammen verbringen werden, folgt mir Damen nicht von der Schule nach Hause. Wir küssen uns nur kurz auf dem Parkplatz, ehe ich in mein Auto steige und zum Einkaufszentrum fahre.

Ich will mir für heute Abend etwas Besonderes kaufen - etwas Hübsches für Miles' Theaterstück und mein großes Date -, da wir alle beide in unserer ganz eigenen Premiere die Hauptrolle spielen werden. Doch ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich nicht so viel Zeit habe, wie ich dachte, und ich frage mich, ob ich Damens Vorschlag, die Schule zu schwänzen, nicht lieber hätte annehmen sollen.

Ich überlege, ob ich Haven suchen soll. Seit dieser merkwürdigen Sache mit Drina waren wir nicht mehr viel zusammen, und nachdem sie nun Josh kennen gelernt hat, hängen die beiden praktisch aneinander wie siamesische Zwillinge, obwohl er nicht einmal auf unsere Schule geht. Er hat es sogar geschafft, sie von ihrer Selbsthilfegruppensucht zu kurieren - ihrem täglichen Ritual, nach der Schule das eine oder andere kirchliche Gemeindezentrum aufzusuchen, sich mit Fruchtpunsch und Keksen vollzustopfen und dort irgendein Rührstück über die Sucht aufzutischen, die sie sich für den jeweiligen Tag ausgesucht hat.

Und bis jetzt hat es mir eigentlich gar nichts ausgemacht, sie seltener zu sehen, da sie so glücklich wirkt. Als hätte sie endlich jemanden gefunden, der sie nicht nur mag, sondern ihr auch gut tut. Aber in letzter Zeit vermisse ich sie und denke mir, dass es schön wäre, ein bisschen öfter mit ihr zusammen zu sein.

Ich sehe sie und Roman an seinen roten Oldtimer-Sportwagen gelehnt dastehen und beobachte, wie Haven ihn am Arm packt und über irgendetwas lacht, was er gesagt hat. Die Strenge ihrer engen schwarzen Jeans, des eingegangenen schwarzen Cardigans, des ärmellosen Tops mit dem Aufdruck von Fall Out Boy und der absichtlich zerzausten, schwarz gefärbten Haare mit dem knallroten Streifen wird von ihrer zart rosefarbenen Aura abgemildert, die immer breiter wird und nach allen Seiten ausgreift, bis sie beide einhüllt. Es liegt auf der Hand, dass Josh, falls Roman ihre Gefühle erwidert, bald abgelöst werden wird. Eigentlich bin ich entschlossen, der Sache Einhalt zu gebieten, ehe es zu spät ist, doch in diesem Moment dreht Roman sich um und sieht mich dermaßen durchdringend, vertraulich und voll von unbekannten Absichten an, dass ich aufs Gas trete und vorbeizische.

Denn obwohl meine Freunde ihn alle so cool finden, obwohl ihn sogar die Elite akzeptiert, obwohl Damen nicht im Geringsten beunruhigt ist, mag ich ihn nicht.

Meine Gefühle beruhen zwar auf nichts Konkreterem als einem ständigen Alarmklingeln in meinem Bauch, wenn er in der Nähe ist, aber Tatsache ist trotzdem: Dieser neue Typ ist mir unheimlich.

 

Da es heiß ist, steuere ich die überdachte South Coast Plaza Mall an statt des offenen Einkaufszentrums Fashion Island, auch wenn die Einheimischen vermutlich genau das Gegenteil tun würden.

Aber ich bin keine Einheimische. Ich komme aus Oregon, und das heißt, dass ich das Vorfrühlingswetter wesentlich, na ja, eben vorfrühlingshafter gewohnt bin, mit Regengüssen, bewölktem Himmel und jeder Menge Matsch. Wie ein richtiger Frühling eben. Nicht dieser heiße, perverse, unnatürliche Pseudosommer, der sich hier als Frühling ausgibt. Doch soweit ich gehört habe, wird es nur noch schlimmer werden. Weshalb ich mein Zuhause umso mehr vermisse.

Normalerweise tue ich alles, um keinen solchen Ort betreten zu müssen - einen Ort mit so übertrieben viel Licht und Lärm und dieser von Menschenmengen erzeugten, massiven Energie, die mich regelmäßig überwältigt und total nervös macht. Und ohne Damen an meiner Seite, der sich als mein übersinnlicher Schutzschild betätigt, muss ich mich erneut auf meinen iPod verlassen.

Allerdings will ich nicht wieder das Kapuzensweatshirt und die Sonnenbrille tragen, um den Lärm auszublenden, wie ich es anfangs gemacht habe. Ich habe es satt, wie ein Freak auszusehen. Stattdessen konzentriere ich mich auf das, was direkt vor mir liegt, und blende alles darum herum aus, genau wie Damen es mir beigebracht hat.

Ich stecke mir die Ohrhörer in die Ohren und drehe die Lautstärke auf, bis die Musik alles abblockt außer dem wirbelnden Regenbogen aus Augen und den paar körperlosen Geistern, die umherschweben (und trotz meines eingeschränkten Gesichtsfelds direkt vor mir sind). Und als ich zu Victoria's Secret hineingehe und schnurstracks die Naughty-Nighties-Abteilung ansteuere, bin ich so abwesend, so auf mein Vorhaben konzentriert, dass ich Stacia und Honor gar nicht bemerke.

»Oh, mein Gott!«, jault Stacia auf und geht so zielstrebig auf mich zu, als wäre ich eine Wühlkiste mit der Aufschrift GUCCI - ALLES HALBER PREIS! »Das kann nicht dein Ernst sein.« Sie zeigt auf das Nachthemd, das ich in der Hand halte, und ihr perfekt manikürter Nagel fährt den Schlitz entlang, der sowohl von oben als auch von unten kommt und irgendwo in der Mitte an einem strassbesetzten Ring aufeinandertrifft.

Und obwohl ich nur neugierig war und nicht einmal daran gedacht habe, es zu kaufen, komme ich mir total blöd vor, als ich ihre verzerrte Miene sehe und die spöttischen Gedanken in ihrem Kopf höre.

Ich werfe es wieder auf den Ständer, fummele an meinem Ohrhörer herum und tue so, als hätte ich nichts gehört, während ich zu den baumwollenen Garnituren gehe, die meinem Stil und meinem Geschmack wesentlich mehr entsprechen.

Doch gerade als ich beginne, ein paar knallpink-orange gestreifte Hemdchen durchzusehen, wird mir klar, dass sie wahrscheinlich Damens Geschmack überhaupt nicht treffen. Wahrscheinlich gefiele ihm etwas Gewagteres viel besser. Etwas mit wesentlich mehr Spitze und wesentlich weniger Baumwolle. Etwas, das man allen Ernstes als sexy bezeichnen könnte. Und ohne auch nur hinzusehen, weiß ich, dass mir Stada und ihr treues Hündchen gefolgt sind.

»Ah, schau mal, Honor. Der Freak kann sich nicht zwischen sexy und süß entscheiden.« Stacia schüttelt den Kopf und grinst mich an. »Glaub mir, im Zweifelsfall muss man immer auf sexy setzen. Damit liegt man meistens richtig. Außerdem, soweit ich Damen kenne, steht er nicht so auf süß.«

Ich erstarre, mein Magen verkrampft sich vor sinnloser Eifersucht. Doch nur für einen Moment, bis ich mich zwinge, wieder zu atmen und weiterzusuchen, um mir auf keinen Fall anmerken zu lassen, dass mich ihre Worte getroffen haben.

Außerdem weiß ich ganz genau, was zwischen ihnen abgelaufen ist, und ich kann voller Freude berichten, dass es weder sexy noch süß war. Weil es nämlich überhaupt nichts war. Damen hat nur so getan, als ob er auf sie steht, um an mich ranzukommen. Und trotzdem, allein beim Gedanken, dass er es auch nur vorgetäuscht hat, wird mir übel.

»Komm schon, gehen wir. Sie hört dich nicht«, sagt Honor, kratzt sich den Arm und blickt zwischen Stacia und mir hin und her, ehe sie zum hundertsten Mal ihr Handy checkt, um zu sehen, ob Craig auf ihre SMS geantwortet hat.

Doch Stacia rührt sich nicht vom Fleck. Sie genießt die Situation viel zu sehr, um so ohne Weiteres aufzugeben. »Oh, sie hört mich sehr gut«, sagt sie, während ein Lächeln ihre Lippen umspielt. »Lass dich von dem iPod und den Ohrstöpseln nicht täuschen. Sie kann alles hören, was wir sagen, und alles, was wir denken. Denn Ever ist nicht nur ein Freak, sie ist eine Hexe.«

Ich wende mich ab und gehe zur anderen Seite des Ladens, wo ich einen Ständer mit Push-up-BHs und Korsetts durchstöbere und mir dabei selbst gut zurede. Ignorier sie, ignorier sie, konzentrier dich einfach aufs Einkaufen, dann verschwindet sie schon.

Doch Stacia verschwindet nicht. Stattdessen packt sie mich am Arm, zieht mich zu sich her und sagt: »Komm schon, nicht so schüchtern. Zeig's ihr. Zeig Honor, was für ein Freak du bist!«

Sie starrt mir direkt in die Augen und sendet eine Flut von verstörender dunkler Energie mitten durch mich hindurch, während sie meinen Arm so fest drückt, dass sich ihr Daumen und ihr Zeigefinger praktisch treffen. Ich weiß genau, dass sie mich ködern, mich provozieren will, da sie genau weiß, wozu ich fähig bin, nach diesem einen Mal, als ich auf dem Flur in der Schule die Kontrolle verloren habe. Nur dass sie es damals nicht mit Absicht gemacht hat - sie hatte ja keine Ahnung, was für Kräfte ich besitze.

Honor wird es langsam ungemütlich, sie steht neben Stada und fängt an zu quengeln. »Komm schon, Stada. Gehen wir. Das ist doch lang-wei-lig.«

Stada ignoriert sie jedoch und umklammert meinen Arm noch fester. Ihre Nägel bohren sich in mein Fleisch. »Na los, sag's ihr«, zischt sie. »Sag ihr, was du siehst.«

Ich schließe die Augen, während mein Magen Purzelbäume schlägt und sich mein Kopf mit Bildern füllt, die denen von damals ähneln: Stada, wie sie sich mit Krallen und Klauen den Weg an die Spitze der Beliebtheitspyramide erkämpft und all jene unter ihr wesentlich härter als nötig tritt. Einschließlich Honor, vor allem Honor, die solche Angst davor hat, unbeliebt zu sein, dass sie sich nicht wehrt.

Ich könnte ihr sagen, was für eine schreckliche Freundin Stada wirklich ist, sie als die schreckliche Person bloßstellen, die sie in Wahrheit ist. Ich könnte Stacias Hand von meinem Arm lösen und sie mit solcher Wucht quer durch den Raum schleudern, dass sie mitten durch das Glasfenster fliegt und schließlich draußen gegen die Wegweisertafel der Mall prallt.

Aber ich kann nicht. Dass ich letztes Mal in der Schule die Beherrschung verloren und Stada all die schrecklichen Dinge an den Kopf geworfen habe, die ich über sie weiß, war ein kolossaler Fehler, und ich kann es mir nicht leisten, ihn noch einmal zu machen. Es gibt jetzt so viel mehr zu verbergen, es stehen wesentlich größere Geheimnisse auf dem Spiel - Geheimnisse, die nicht nur mir gehören, sondern auch Damen.

Stada lacht, als ich darum ringe, die Ruhe zu bewahren und nicht überzureagieren. Ich rufe mir selbst in Erinnerung, dass es zwar in Ordnung ist, schwach zu wirken, der Schwäche jedoch nachzugeben absolut nicht. Es ist absolut unerlässlich, normal zu erscheinen, ahnungslos und ihr die Illusion zu lassen, dass sie so viel stärker ist als ich.

Honor sieht auf die Uhr, verdreht die Augen und will nur noch weg. Und gerade als ich mich losmachen und Stacia dabei vielleicht ganz zufällig mit der Rückhand eine wischen will, sehe ich etwas so Schreckliches, etwas so Widerliches, dass ich bei meinem Versuch, mich zu befreien, einen ganzen Ständer mit Dessous zu Boden reiße.

BHs, Strings, Kleiderbügel und Stangen krachen allesamt in einem Riesenhaufen zu Boden.

Mit mir als Kirsche obendrauf.

»Oh, mein Gott!«, kreischt Stacia und klammert sich an Honor fest, während sie sich vor Lachen über mich ausschütten. »Was bist du nur für ein Freak!«, sagt sie und zückt blitzschnell ihr Handy, damit sie alles auf Video festhalten kann. Sie zoomt ganz nah heran und macht Großaufnahmen von mir, wie ich versuche, mich von einem roten Strumpfgürtel zu befreien, der sich um meinen Hals gewickelt hat. »Mach mal lieber schnell, und sieh zu, dass du das hier aufräumst! Du kennst doch die Regel - was du kaputt machst, musst du auch bezahlen!«

Mit wackligen Beinen stehe ich auf, während Stacia und Honor zur Tür eilen und eine Verkäuferin auf der Bildfläche erscheint. Stacia nimmt sich noch die Zeit, einen Blick zurückzuwerfen. »Ich hab dich im Auge, Ever«, sagt sie. »Glaub mir, ich bin noch nicht fertig mit dir.« Und dann laufen sie davon.

 

Der blaue Mond
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